Medizinische Entwicklung und HIV
Seit dem Bekanntwerden von HIV/AIDS Anfang der 80er-Jahre hat sich die Situation für Menschen mit HIV deutlich verändert. Dank der medizinischen Entwicklungen darf HIV heute nicht mehr als tödliche Erkrankung, sondern als gut behandelbare chronische Infektion mit hoher Lebenserwartung gewertet werden. Jedoch erscheinen zeitgleich die gesellschaftliche Entstigmatisierung sowie das Auflösen von Zuschreibungen und damit Normalisierung im Umgang mit der Thematik bislang nur in Teilbereichen erreicht. Dies bedeutet unter anderem, dass Menschen mit HIV trotz der modernen Behandlungsoptionen und der damit erreichten neuen Bewertung von Infektionsrisiken die gesamte Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit HIV mittragen müssen. Aus diesem Grund geht es unabhängig von der persönlichen Geschichte sowohl für Menschen mit HIV als auch für Menschen aus den unterstützenden, betreuenden und beratenden Bereichen darum, das Phänomen in seiner Historizität zu begreifen.
Bewertung der Lebensqualität & welche Faktoren beitragen
Auch eine Bewertung der Lebensqualität von Klient*innen und Patient*innen steht in diesem historischen Bezug. Denn bei der Frage, welche Faktoren wesentlich zur Lebensqualität beitragen, sind neben Themen wie Gesundheit, materieller Sicherheit, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit unbedingt die Aspekte der sozialen Einbindung, Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Teilhabe und eines stigmatisierungsfreien Lebens in all ihren Dimensionen zu nennen. Unabhängig ihrer individuellen Lebenssituation müssen Menschen mit HIV immer wieder direkt oder unterschwellig wahrnehmen, was die Gesellschaft dem Thema zuschreibt und was es bedeutet, HIV-positiv zu sein. Dies hat zweifelsfrei Auswirkungen auf die Lebensqualität. Die Tatsache, dass z. B. Depressionen bei Menschen mit HIV signifikant häufiger auftreten und die Suizidraten auch heutzutage über dem Durchschnitt liegen, dürften für sich stehen. Dies steht kontrovers dazu, dass sich das Leben mit HIV dank moderner Therapie vom Fatum hin zu sehr diversifizierten Biografien gewandelt hat.
Entstigmatisierung
Obwohl unterschiedlichste Menschen sehr persönliche und unterschiedliche Lebenswege beschreiten, wird dies gesellschaftspolitisch gesehen nicht immer wahrgenommen. Zwei Zitate von Menschen mit HIV verdeutlichen den Stress, den diese Reduktion auf vermeintliche Charakteristika der Infektion verursacht: „In der ‚Normalbevölkerung‘ sage ich es nie, wirklich nie – damals wie heute nicht. Substituiert und positiv, da hast du einen Stempel drauf, ist voll das Stigma.“ „Ich will nach Bekanntwerden meiner Infektion nicht postwendend als Projektionsfläche für Fantasien und Vermutungen über sexuelle Orientierung und sexuelle Praktiken herhalten müssen.“ Eine Sondierung der Position von Menschen mit HIV in diesem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Geschichte und moderner Therapie, zwischen bestehender Andersbehandlung und beginnender Normalisierung, ist herausfordernd. Sie zeigt jedoch gleichfalls auf, wie individuell der Umgang von Menschen mit der Infektion ist – damals wie heute.